© Miguel Gutierrez Chero
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„Der Wind weiß, dass dies unser Land ist“

Ende der 1960er Jahre wurde in Peru die so genannte Agrarreform durchgeführt. Ziel war eine Umverteilung des Landes, um Grundbesitz neu zu verteilen. Auch wenn inzwischen ein halbes Jahrhundert vergangen ist, führen die damaligen Regelungen bis heute zu Landstreitigkeiten. Dies zeigt das Beispiel des Dorfes Tantaccalla.

Am 24. März 2023 wachten die Dorfbewohner*innen von Tantaccalla mit sorgenvollen Gesichtern auf. Die indigene Gemeinde, die nur zwei Stunden von Cusco entfernt liegt, war plötzlich von der Räumung bedroht, weil eine Familie von ehemaligen Landbesitzern Anspruch am Land erhob und eine Klage eingereicht hatte. In Folge dessen setzte die Polizei 300 Beamte ein, um die Menschen aus ihren Häusern zu vertreiben, teilweise mit Gewalt. Doch die Gemeindebewohner*innen waren entschlossen, ihre Häuser um jeden Preis zu verteidigen – die einen mit Stöcken bewaffnet, die anderen auf Pferden. Doch wie kam es zu diesem Vorfall?

Die Anwältin der Gemeinde, Karina Baca Gómez, erklärt: „Die Gemeinde wurde am 10. Dezember 1926 im öffentlichen Register eingetragen und hat 1988 ihre Landtitel erhalten. 2005 wurde sie jedoch von der Familie Paz Vizcarra verklagt, die den Eigentumstitel für nichtig erklären lassen wollte. Die ehemaligen Grundbesitzer wiesen eine Eintragungsurkunde vor, die auf ein Testament aus dem Jahr 1946 zurückgeht.“ Dieses Datum liegt zwanzig Jahre nach dem Eintrag der Gemeinde. Doch nicht nur das spricht für den Rechtsanspruch der Gemeinde – sondern auch die Tatsache, dass sie das Land landwirtschaftlich nutzt. Denn für die Familien ist dies kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit: Sie haben hier ihre Häuser gebaut, ihre Felder bestellt und leben auf diesem Land, während die Familie der ehemaligen Besitzer es weder nutzt noch braucht. Das ist zwar kein rechtlicher, aber ein moralischer Grundsatz: Die Familien brauchen das Land zum Leben.

Die Agrarreform begann von unten

Das umstrittene Gebiet ist 218 Hektar groß. Auf der Klägerseite steht die Familie des ehemaligen Landbesitzers Luis Gustavo Paz Vizcarra, die argumentiert, dass dieses Land nicht von der Agrarreform betroffen war und weiterhin ihr Eigentum ist.

Um dies verständlich zu machen, müssen wir zurück ins Jahr 1969, als die peruanische Regierung eine Reihe von Maßnahmen durchführte, die darauf abzielten, die Sozialstruktur des Landes zu verändern, indem das System der Verteilung von Reichtum und Grundbesitz angepasst wurde. Die wichtigste Maßnahme war die Verabschiedung des Gesetzesdekrets Nr. 17716, besser bekannt als das Agrarreformgesetz. Dessen erster Schritt bestand darin, die Latifundien- und Minifundienregelungen durch ein Umverteilungssystem zu ersetzen, das die Enteignung des ländlichen Bodens vorsah. Dieses Land wurde zunächst vom Staat übernommen und dann an Genossenschaften und Bauernvereine verteilt. Auf diese Weise wurde versucht, das System der Grundherrschaft und Leibeigenschaft zu beseitigen.

Die Agrarreform war jedoch ein Prozess, der „von unten“ begonnen hatte. Tatsächlich waren die von der Regierung Velasco ergriffenen Maßnahmen lediglich ein Versuch, die Feuer eines rebellischen Brandes zu löschen, der damals in Cuscos Provinz La Convención ausgebrochen war. Die Reform sollte die kolonialen Wurzeln der latifundistischen Gebietsaufteilung aushebeln und die einst Enteigneten entschädigen. Doch das Motto und das Narrativ blieben gleich: „Das Land gehört denen, die es bearbeiten.“

Zurück ins 21. Jahrhundert: Heute haben die Erben des ehemaligen Landbesitzers von Tantaccalla keinerlei Beziehung zu dem Gebiet, das sie beanspruchen – sie wussten seit Generationen nicht einmal von dessen Existenz. Tantaccalla dagegen hat sich zu einer Gemeinde entwickelt, die in der Datenbank für indigene Völker des peruanischen Kulturministeriums eingetragen ist. Damit wird offiziell anerkannt, dass sie bereits vor der Verfassung des Staates existierte. Trotzdem verlor die Gemeinde den Prozess sowohl in erster als auch in zweiter Instanz, aufgrund der Nachlässigkeit ihres Anwalts.

Wir werden unser Land mit unserem Leben verteidigen”

An dem Tag, an dem Tantaccalla geräumt werden sollte, standen die Dorfbewohner*innen um vier Uhr morgens auf, um den Widerstand zu organisieren. „Wir hatten große Angst, aber was sollten wir tun, wir mussten unsere Heimat verteidigen“, sagt Daniel Quispe, der damalige Vorsitzende der Gemeinde. Er war es, der mich eingeladen hatte, in der Hoffnung, dass meine Anwesenheit als Journalist dazu beitragen könnte, eine Art medialen Druck auszuüben, um die Räumung zu verhindern.

Als ich ankam, war alles still. Die Leute unterhielten sich leise. Die Frauen bereiteten das Frühstück vor und sahen einander traurig an, während die Männer strategische Punkte ausmachten, von denen aus sie die Zufahrtsstraße blockieren könnten, falls die Polizei eindringen sollte. „Wir haben schon Angst, aber der Wind weiß, dass dies unser Land ist, und wir werden es mit unserem Leben verteidigen. Hier haben unsere Großeltern gelebt, und hier werden unsere Enkelkinder leben.“ In der Tat wurden diese Worte vom Rauschen des Windes begleitet, als ob auch er etwas dazu sagen wollte.

Um sieben Uhr früh begannen die Vorbereitungen für den Widerstand. Plötzlich kniete eine Frau nieder, dann eine andere, dann alle. Sie begannen zu beten, und zwischen dem Geflüster ihrer Gebete flossen Tränen aus ihren geschlossenen Augen. An den umliegenden Abhängen saß eine Gruppe junger Leute, strategisch verteilt. Und am Haupteingang des Dorfes bildeten die Frauen zwischen fünfzig und siebzig eine menschliche Mauer und hielten die peruanische Flagge hoch.

Die Polizei traf um 10 Uhr ein. Die Beamten stiegen in zwei Kilometern Entfernung aus mehreren Bussen aus und warteten auf den Richter. Er brachte die Anwälte beider Seiten zusammen, holte Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft, der Polizei, der Gemeindevertreter und der Familie der ehemaligen Landbesitzer ein. Die Spannung löste sich, als der Richter die Häuser besichtigen wollte und feststellte, dass der offizielle Bericht, nach dem Tantaccalla eine improvisierte Siedlung ohne Wurzeln sei, falsch war. Schließlich gibt es dort zweistöckige Häuser, eine Kirche, eine Schule, ein Gemeindezentrum, Strom, Wasser, sogar Internet und Kabelfernsehen.

Vorläufige Entwarnung – doch die Zukunft ist unsicher

Nachdem die Staatsanwaltschaft, die Polizei und der Anwalt der Gemeinde bestätigt hatten, dass die Räumungsanordnung unbegründet war, forderten sie den Richter auf, die Räumungsanordnung auszusetzen. Tatsächlich beschloss er – trotz der Einwände des Kläger-Anwalts – die Räumung zu stoppen. Nun kochten die Emotionen so richtig hoch. Die Frauen, die die menschliche Barrikade bildeten, begannen zu weinen, die Männer warfen jubelnd ihre Hüte in die Luft.

Doch die Gefahr der Vertreibung hat bei den Dorfbewohner*innen traumatische Spuren hinterlassen. Die Angst hat sich nicht verflüchtigt und erzeugt bis heute Spannungen in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens. Sie sind in interne Streitigkeiten verwickelt, und viele junge Menschen sind aus Angst vor der Vertreibung in die Stadt abgewandert, was sich negativ auf die landwirtschaftliche Tätigkeit ausgewirkt hat. Die Landflucht ist zwar nicht neu, hat sich aber durch die drohende Vertreibung erheblich beschleunigt.

Das Gerichtsverfahren ist zwar nicht endgültig abgeschlossen, aber vorerst eingefroren. Denn der Richter hat die Räumung nur gestoppt, weil er nicht sicher war, ob sie wegen der Auswirkungen auf das Leben der Menschen durchführbar war. Die Anhörungen und andere Termine wurden immer wieder verschoben, was eine unvorhersehbare finanzielle Belastung für die Dorfbewohner*innen darstellt. Denn die Kosten für Anwälte und die Reisen in die Stadt, wo die Gerichtsverhandlungen stattfinden, sind erheblich.

Und was erwarten die Bewohner*innen von Tantaccalla von diesem Prozess? Sie erwarten Respekt für ihr Leben und für ihr Land in diesem Teil der Welt, auf diesem Stück Land.


Text und Fotos: Miguel Gutierrez
Zuerst erschienen auf «Arts of the Working Class»

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