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Der lange Schatten von Kolumbus

Das Rechtssystem in Lateinamerika baut hauptsächlich auf europäischer Gesetzgebung auf – und zwar auf kolonialer. Indigenes Verständnis von Recht und kollektive Prozesse werden dadurch übergangen, sagt der peruanische Rechtsanwalt Ramiro Llatas.

Auf welchen Grundlagen wurde das peruanische Rechtssystem aufgebaut? Und welche Konsequenzen hat dies auf die heutige Rechtsprechung? Der Menschenrechtsanwalt Ramiro Llatas, der schon diverse indigene Autoritäten vor Gericht verteidigt hat, spannt den Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Bereits Jahrhunderte vor der Unabhängigkeit existierte in Peru eine Gesetzgebung – und zwar eine indigene. Wurde diese bei der Erarbeitung der ersten Verfassung in Betracht gezogen?

Ramiro Llatas: Bis zum heutigen Tag basiert die Gesetzgebung Perus auf europäischen Vorlagen, unter anderem auf dem römischen und angelsächsischen Recht. Nachdem die Spanier abzogen, war Peru angeblich unabhängig, aber die Machtstrukturen blieben gleich. So entstand das hiesige Rechtswesen im Rahmen einer sehr kolonialen Denkweise. Ein Teil der Bevölkerung wurde als überlegen betrachtet, ein anderer als minderwertig.

Wie wurde diese Überlegenheit demonstriert?

Die Nachfahren der Spanier, die sich als weiterentwickelt betrachteten, konnten Wissen produzieren und Recht schaffen, Gesetze erlassen, Institutionen gründen und in Ämter gewählt werden – obwohl sie eine Minderheit der Landesbevölkerung darstellten. Indigene, Schwarze, Migranten und so genannten Mestizen – Menschen mit gemischter Abstammung – hatten keine Mitsprache in der neu ausgerufenen Republik Peru. Sie konnten weder wählen noch gewählt werden.

Wie wurde das gerechtfertigt?

Man ging davon aus, dass die Indigenen Analphabeten im halbwilden Zustand waren und man ihnen politische Entscheidungen nicht zutrauen konnte. Im peruanischen Strafgesetzbuch war bis 1992 festgehalten, dass man bei der Verurteilung von Menschen in ländlichen Gebieten in Betracht ziehen müsse, dass es sich um Halbwilde handle. Darüber wurde auch noch 1979 diskutiert, als eine neue Verfassung erarbeitet wurde. Damals ging es um die Frage, ob die indigene Bevölkerung das Wahlrecht erhalten soll. Viele waren dagegen. Doch das Argument, dass in einer Republik alle eine Stimme haben müssen, gewann im 20. Jahrhundert schließlich die Oberhand. Dies veränderte das gesamte politische Szenario.

Warum gingen die Spanier davon aus, dass die indigene Bevölkerung minderwertig sei?

Als sie in Lateinamerika ankamen, ergab sich ein rechtliches Problem. Die Spanier sahen, dass die Gebiete reich an Ressourcen wie Gold waren, und wollten sich diese Reichtümer aneignen. Wenn man anerkannt hätte, dass die in Anführungszeichen neu «entdeckten» Gebiete der lokalen Bevölkerung oder ihren Machthabern gehörten, wäre es aber nicht zu rechtfertigen gewesen, das Gold einfach mitzunehmen. So wurde ein Narrativ geschaffen, laut dem die Indigenen minderwertige Wesen darstellten, die nicht in der Lage seien, ihr Land oder ihr Eigentum zu verwalten – weshalb dies die Spanier für sie tun müssten. Auf dieser Denkweise wurde eine ganze Ideologie der Abwertung aufgebaut, sozusagen ein erster Vorläufer des Rassismus. Und die Annahme der Minderwertigkeit hält sich bis heute.

Mittlerweile anerkennt die heutige Verfassung Perus die indigene Gesetzgebung als paralleles Rechtssystem an. Kann die indigene Bevölkerung ihre Gesetze in der Praxis wirklich anwenden?

Dass die Verfassung von 1993 das Gemeinderecht innerhalb der indigenen Territorien als gleichrangiges Rechtssystem anerkannt hat, kann als ein verfassungsrechtlicher Fortschritt betrachtet werden. Doch in der Praxis ist das Ganze viel komplexer. Eigentlich müssten Funktionäre wie Staatsanwälte oder Richter mit den indigenen Vertretern koordinieren. Doch die Modalitäten dieser Koordination sind nicht genau festgelegt.

In welchen Bereichen gibt es Konflikte?

Man muss verstehen, dass das indigene Recht einer ganz anderen Logik folgt als die europäische Gesetzgebung. Wenn es in einer Gemeinde ein Problem gibt, zum Beispiel weil jemand jemanden bestohlen hat, überlässt man das Urteil nicht einer Drittperson wie einem Staatsanwalt oder Richter. Sondern man versucht, eine Einigung zwischen den beiden Parteien zu finden. Wenn das nicht gelingt, beruft man eine Gemeindeversammlung ein, bei der gemeinsam entschieden wird, welche Strafe verhängt werden soll. Das Urteil wird seit Generationen in einem kollektiven Prozess gefällt, unter Einbezug der Streitparteien – und nicht von einer externen Person nach fest definierten, schriftlich festgehaltenen Normen. Man beurteilt jeden Fall individuell.

Heißt das, dass auch das Strafmaß individuell ist?

Das ist richtig. Manchmal werden statt Geldstrafen andere Sanktionen verhängt, zum Beispiel gemeinnützige oder soziale Arbeit in der Gemeinde. Die Entscheidungen, die im Kollektiv beschlossen werden, werden in der Regel anerkannt und können nicht missachtet werden. Denn die Gemeindeversammlung ist eine wichtige moralische Autorität, und die Frage nach der Art der Sanktion ist eine komplexe Angelegenheit, die mehr Elemente als nur das Materielle umfasst.

Zum Beispiel?

Es kann etwa beschlossen werden, dass der Schuldige im Fluss gebadet wird. Aber nicht in dem Sinn, dass er unter Wasser gedrückt oder sonst irgendwie gefoltert würde. Im Gegenteil: Das Wasser hat eine heilende Wirkung, und das Baden soll dafür sorgen, dass sie von der Schuld des Vergehens gereinigt werden und sich wieder in die Gemeinschaft eingliedern können.

Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der beiden Rechtssysteme konkret ab, wenn sie auf so verschiedenen Grundlagen aufbauen?

Ich gebe ein Beispiel: In einer Gemeinde wurde nach einem Fest ein Toter aufgefunden. In dieser Situation müsste der Staatsanwalt den Fall gemeinsam mit den kommunalen Führern untersuchen. Doch in diesem Fall lehnte der Staatsanwalt das ab und sagte der Gemeinde, dass der Fall nun in seiner Verantwortung läge und sie nichts mehr damit zu tun hätte. Allerdings konnte er den Schuldigen nicht ermitteln, während in der Gemeinde ein erhärteter Verdacht bestand. Es wurde eine Gemeindeversammlung einberufen, doch der Angeklagte gab die Tat nicht zu. Deshalb griff man auf die höhere Rechtsinstanz zurück, nämlich auf die bezirksübergreifende Versammlung, in der alle Gemeinden des Bezirks zusammenkommen. Doch bevor man beginnen konnte, schritt der Staatsanwalt ein und sagte, dass die Versammlung nicht rechtens sei, weil sich die Gemeinde Zuständigkeiten anmaße, über die sie nicht verfüge. Infolge dessen wurden fünf ihrer Leader angeklagt und mussten sich vor dem Verfassungsgericht verantworten. Sie wurden zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.

Obwohl sie im Recht waren?

Die Staatsanwälte gehen oft davon aus, dass die offizielle Justiz der kommunalen überstellt ist. Doch das widerspricht nicht nur der Verfassung, sondern auch dem internationalen Gesetz. Im europäischen System – auf dem die peruanische Gesetzgebung aufbaut – gibt es keine kollektiven Rechte. Diese sind aber in der Konvention 169 der Arbeitsorganisation ILO verankert, die auch Peru ratifiziert hat. Im Rahmen dieses Abkommens hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte bisher 13 Urteile zu Gunsten von indigenen Gemeinden und gegen Staaten gefällt, zum Beispiel gegen Chile oder Brasilien.

Wie kamen Urteile zu Gunsten der Gemeinden zu Stande?

Im Beispiel von Chile ging es um die indigene Bevölkerung der Mapuche, in deren Territorium Konzessionen zur Abholzung gewährt worden waren. Aus der Perspektive des internationalen Rechts gehört dieses Gebiet den Mapuche und nicht dem Staat. Der Staat hat also ein Grundrecht missachtet, weil er daran interessiert ist, die Ressourcen der indigenen Territorien abzubauen, um sie dann an die Industrieländer zu verkaufen. Die Mapuche sind also gegen die Konzessionierung vorgegangen und wollten ihr Territorium verteidigen. Auf Grund dessen wurden sie wegen Terrorismus verurteilt, und mehrere der Anführer mussten ins Gefängnis. Der Fall wurde bis vor den Obersten Gerichtshof von Chile weitergezogen, ohne dass den Mapuche Recht gegeben wurde. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte dagegen hat den Mapuche Recht gegeben – und den chilenischen Staat damit konfrontiert, dass der Vorwurf des Terrorismus nie hatte bewiesen werden können. Vor allem auch deshalb, weil in der nationalen Gesetzgebung der Begriff Terrorismus nicht konkret definiert ist.

Hat Chile das Urteil akzeptiert und die Abholzungskonzessionen zurückgezogen?

Ja, die Inhaftierten wurden freigelassen und das Land an die Mapuche zurückgegeben. Doch der Prozess hatte sechs Jahre lang gedauert, und in dieser Zeit war natürlich schon großflächig abgeholzt worden. Es ist typisch, dass solche Prozesse langwierig und mit hohen Kosten verbunden sind. Ohne die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen und erfahrenen Anwälten haben indigene Gemeinden in diesem System der nationalen und internationalen Rechtsprechung praktisch keine Chance.


Zuerst erschienen auf «Magazin Tentakel»

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